Die Frage der Wirksamkeit von (immersiven) Lernumgebungen ist eine Herausforderung für Bildungsforscher ebenso wie für Bildungsverantwortliche. Im Rahmen eines Forschungskolloquiums an der PH St.Gallen wurden Vorgehensweisen der mediendidaktische Wirkungsforschung aufgezeigt.
Im Rahmen unseres Weiterbildungsmoduls “Immersive Lernumgebungen” haben wir in den letzten Tagen unter anderem auch über ausgewählte Ergebnisse empirischer Forschungen gesprochen. Dabei waren Fragen offen geblieben – beispielsweise Fragen danach, welche Art von Forschungsdesigns eigentlich dem Stand der Kunst entsprechen. Da traf es sich gut, dass in der gleichen Woche an der Pädagogischen Hochschule St.Gallen ein Forschungskolloquium stattfand, bei dem Mitglieder des Learning Lab an der Universität Duisburg-Essen öffentliche Vorträge zu diesem Thema angeboten haben.
Medien sind nicht das Treatment
Michael Kerres verwies in seinem Vortrag “Wie wirken Medien auf Lernen? – Zur Anlage mediendidaktischer Forschung” darauf, dass digitale Technik NICHT das Treatment ist, sondern vielmehr der Hintergrund, vor dem mediendidaktische Treatments entwickeln werden. Diese Position hat er übrigens schon vor 20 Jahren formuliert:
“Es ist nicht die Medientechnologie, die lernwirksam ist, sondern die mediale und didaktische Aufbereitung von Inhalten. (…) Medien sind kein Treatment für die Bildungsarbeit, deren Einsatz Effekte auf das Lernen erzielt, sondern ein Rohstoff, der Potenziale für bestimmte Innovationen in der Bildung eröffnet (…).”
Kerres 2003, S. 6-7
Das Potenzial digitaler Lernumgebungen sieht Kerres u.a. in den Möglichkeiten zur Intensivierung von Lernprozessen und zur Stärkung des Engagements von Lernenden im Lernprozess. Und er verwies in seinem Vortrag auf Veränderungen in der Perspektive mediendidaktischer (Wirkungs-)Forschung weg von Analysen zur Wirkung einzelner Lernmedien hin zur Wirkung von mediengesättigten Lernwelten.
Die Sichtweise, dass nicht Medien per se das wirkende Treatment sind, wird illustriert durch Ergebnisse beispielsweise von Cook et al. (2012), deren Metaanalyse zu digitalen Simulationsstudien u.a. gezeigt hat, dass sich digitale Simulationsumgebungen in verschiedener Hinsicht systematisch von anderen Lernumgebungen unterscheiden:
Ein Rahmen für mediendidaktische Wirkungsforschung
In ihrem Vortrag “Medienvergleiche in der Bildungsforschung: Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Immersionsbegriff” stellte Miriam Mulders im Rahmen dieses Forschungskolloquiums Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit zu Lernen in virtueller Realität am Beispiel des Anne Frank VR House dar. Dabei zeigte sie zunächst noch einmal visuell die Anlage einfacher Vergleichsstudien (Abb. 2) auf:
Beispiele für Studienergebnisse in dieser Logik sind etwa die Studien von Legault et al. (2019) und Krokos et al. (2019) zum Fremdsprachenerwerb (Vokabular) bzw. zum Erinnerungsvermögen.
Mulders kontrastierte in ihrem Beitrag dieses einfache Vergleichsstudien-Design mit einem Orientierungsrahmen für mediendidaktische Wirkungsforschung, der der Komplexität der Wirkbeziehungen besser gerecht wird (Abb. 4):
Sowohl Kerres als auch Mulders verwiesen darauf, dass in der mediendidaktischen (Vergleichs-)Forschung nach wie vor viele Studien auf einem überholten Design gemäss Abb. 2 basieren. Dies hatte auch eine kürzlich erschienene Publikation aus der Forschungsgruppe am Learning Lab bzw. der PH St.Gallen (Buchner / Kerres 2023) für das Feld der Forschungen zu Augmented Reality aufgezeigt.
Evaluation versus mediendidaktische Wirksamkeitsforschung
Viele, wenn nicht gar die Mehrheit der empirischen Studien zur Wirksamkeit von digitalen (und auch immersiven) Lernumgebungen basieren auf einem Forschungsdesign, das als grob vereinfachend und problematisch einzuschätzen ist. Die dort aufgezeigten Wirkungszusammenhänge, so hat Mulders im Kolloquium überzeugend aufgezeigt, könnten durchaus auf vermittelnde bzw. intervenierende Variablen zurückgehen, die gar nicht systematisch erfasst wurden.
Das heisst nun nicht, dass die Wirkung von medienunterstütztem Lernen im allgemeinen oder von immersiven Lernarrangements im besonderen immer im Rahmen solcher aufwändiger Designs überprüft werden müssen. Die Wirksamkeit kann für den konkreten Einzelfall auch auf der Grundlage einfacherer Evaluationsdesigns aufgezeigt werden (analog zu Abb. 2). Aber wenn es darum geht, im Sinne einer mediendidaktische Wirksamkeitsforschung die komplexen Wirkzusammenhänge transparent zu machen, dann braucht es eben anspruchsvollere Designs (analog zu Abb. 4).
Verweise
- Buchner, J. & Kerres, M. (2023). Media comparison studies dominate comparative research on augmented reality in education. Computers & Education, 195, 104711.
- Cook, D. A., Brydges, R., Hamstra, S. J., Zendejas, B., Szostek, J. H., Wang, A. T., . . . Hatala, R. (2012). Comparative effectiveness of technology-enhanced simulation versus other instructional methods: A systematic review and meta-analysis. Simulation in Healthcare : Journal of the Society for Simulation in Healthcare, 7(5), 308–320.
- Kerres, M. (2003). Wirkungen und Wirksamkeit neuer Medien in der Bildung. In R. K. Keill-Slawik, M. (Ed.), Education Quality Forum. Wirkungen und Wirksamkeit neuer Medien. Münster: Waxmann.
- Krokos, E., Plaisant, C., & Varshney, A. (2019). Virtual memory palaces: immersion aids recall. Virtual Reality, 23(1), 1–15.
- Legault, J., Zhao, J., Chi, Y.‑A., Chen, W., Klippel, A., & Li, P. (2019). Immersive Virtual Reality as an Effective Tool for Second Language Vocabulary Learning. Languages, 4(1), 13.
- Mulders, M. (2022). Jenseits von Medienvergleichen: Komplexe Zusammenhänge des Lernens in Virtual Reality am Beispiel des Anne Frank VR House. Dissertation, Lehrstuhl Mediendidaktik und Wissensmanagement, Universität Duisburg-Essen.
- Mulders, M. (2023, February 23). Medienvergleiche in der Bildungsforschung: Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Immersionsbegriff. Forschungskolloquium PHSG, St.Gallen.
Schreiben Sie einen Kommentar