Ab 2013 hat die Schweiz erstmalig einen Bildungsminister. In der NZZ am Sonntag vom 28.10.2012 ist unter dem Titel zu lesen: “Schneider-Ammann will Ansturm auf Gymnasien bremsen. Der künftige Schweizer Bildungsminister fordert dafür eine Aufwertung der Lehre”:
„Je mehr Maturanden, desto grösser die Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Maturanden nimmt in der Schweiz kontinuierlich zu, bereits jeder fünfte junge Erwachsene erlangt eine gymnasiale Maturität. Von 1985 bis 2010 stieg die Quote von 12 auf 20 Prozent. Sie sollte nicht mehr weiter zunehmen. Ich hätte lieber etwas weniger, dafür bessere Maturanden.“
Ich frage mich, was unsere Erstsemester, vor ein paar Wochen noch Maturanden, über dieses Interview denken – zur Erinnerung: es ist das erste Interview des künftigen Bildungsministers. Sie bekommen zu hören: wir sind eigentlich zu viele und nicht gut genug, aber er will uns eigentlich schützen, damit wir nicht arbeitslos werden. Die Ostschweizer Studierenden sind vermutlich froh, sie gehören ja eher zu den 12 Prozent und vermutlich zu den „Besseren“. Die Westschweizer fühlen sich vermutlich hingegen diskriminiert – was kann ich denn dafür, eine Westschweizer Matura zu haben, wo 20+ Prozent üblich sind?
Die Frage, die sich dabei stellt, ist nicht trivial: was heisst eigentlich „besser“? Besser in Mathe, um an der ETH studieren zu können? Besser darin, Selbstverantwortung übernehmen zu können, in einer Welt, die zunehmend durch Unsicherheit geprägt ist – wo Wandel als einzige Konstante gilt? Mir kommt dabei auch ein interessantes Referat von Prof. Frey, Sozialpsychologe an der Uni München, in den Sinn. Er empfahl Arbeitgebern, nicht nur auf die Noten der Bewerber zu schauen. Diejenigen mit den allerbesten Noten hätten nie gelernt, mit Misserfolgen umzugehen. Also auch der „heimliche Lehrplan“ zählt. Dieses Statement erntete viel Kopfnicken. Waren darunter auch diejenigen, die selbst Bestnoten hatten? Was ich mit dieser Diskussion auf den Punkt bringen will: Die Diskussion um „Besser“ ist normativ, es ist immer eine subjektive Bewertung und in grossem Masse abhängig von der eigenen Lern- und Berufsbiographie. Ein „Besser“ mit dem Anspruch, die Besten selektieren zu wollen, birgt immer die Gefahr, sich einzig auf das zu konzentrieren, was einfach und Rekurs fähig zu prüfen ist. In Albert Einstein’s Büro in Princeton hing das Schild “Not everything that counts can be counted, and not everything that can be counted counts”.
Im besagten Interview mit der NZZ ist eine Ursache sowie ein Lösungsansatz skizziert: „Der Druck auf die Gymnasien nimmt nicht zuletzt wegen der Zuwanderung aus dem benachbarten Ausland zu. Immigrantenfamilien können laut Schneider-Ammann den Wert der Berufsbildung nicht richtig einschätzen. «Und dann wollen sie ihre Kinder um jeden Preis eine Matur machen lassen.» Er will diesen Eltern aufzeigen, dass das Bildungsangebot in der Schweiz viel breiter ist.“
Im Grund genommen bedeutet dieser Ansatz, Angebot und Nachfrage durch mehr Information und Aufklärung besser zusammen zu führen. Meine These ist jedoch, dass dies weder die regionalen Probleme mit offenen Lehrstellen lösen wird, Jugendliche wird es auch künftig in die Stadt ziehen. Noch wird es die Eltern aus den angesprochenen Immigrantenfamilien davon abhalten, ihren Nachwuchs auf private Schulen zu schicken.
Im Nachbarland Österreich (hat wie die Schweiz und Deutschland ebenfalls das duale Berufsbildungssystem) bestimmt die genau entgegengesetzte Forderung das Meinungsbild: „steigende Akademikerquoten sichern die Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit“, so Andreas Schleicher, OECD-Bildungsexperte in der österreichischen Zeitschrift Format. Die von der OECD und vielen Bildungspolitikern implizite Gleichstellung von “Höherqualifiziert” = “Akademisierung” ist m.E. genauso kritisch zu hinterfragen und wird einem Bildungssystem mit einem breit gefächerten Portfolio der beruflichen Bildung überhaupt nicht gerecht. In diesem Punkt ist BR Schneider-Ammann ja zu unterstützen, der Berufsbildung auch künftig einen hohen Stellenwert im Bildungssystem einzuräumen.
Meine Kollegin Monika Bütler (VWL-Professorin) weist in ihrem Blog-Kommentar an dieser Stelle auf den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität hin (http://www.batz.ch/). Ihrer Ansicht nach ist es “am wahrscheinlichsten, dass nicht die Maturandenquote die Arbeitslosigkeit oder umgekehrt beeinflusst, sondern dass gemeinsame unterliegende Ursachen massgeblich sind, die sowohl die Arbeitslosigkeit wie auch die Maturandenquote beeinflussen (wie z.B. verfehlte Bildungspolitik und ein überregulierter Arbeitsmarkt, der es den Unternehmen kaum möglich macht, Lehrlinge auszubilden)”.
Kurzum: die Diskussion um “Berufslehre oder Akademisierung” führt zu Antworten auf Fragen von gestern für Probleme von morgen…
Möchte hier auch auf den Beitrag von Frau Muralt (SSAB), vom Juli 2012 in der NZZ verweisen:
http://www.nzz.ch/meinung/debatte/berufslehre-contra-akademisierung-1.17368045
„Diese «Grabenkriege» sind unnötig. Sie gehen von falschen Fragestellungen aus. Zu fragen ist nicht in erster Linie, wie sich das schweizerische Bildungswesen im internationalisierten Umfeld einzupassen habe. Zu fragen ist vielmehr, wie Bildungssysteme den neuen Anforderungen der sich rasch entwickelnden Informations- und Wissensgesellschaft entsprechen können. Diese Frage müssen sich alle Länder stellen, und es besteht überall Anpassungsbedarf…“
Schreiben Sie einen Kommentar