In unserer sich dynamisch entwickelnden Lebens-, Arbeits- und Berufswelt verändern sich die Voraussetzungen für und die Anforderungen an Bildung. Bildungsverantwortliche und Bildungsinstitutionen in der betrieblichen Weiterbildung, in der Berufsbildung, an Hochschulen und an Schulen werden dadurch herausgefordert: rasch ändernde Aufgabenprofile und Kompetenzerfordernisse; ändernde Berufsrollen; unklare künftige Kompetenzerfordernisse; heterogene Teilnehmendengruppen (Vorwissen, Lernkompetenzen, etc.) – und immer auch eng begrenzte personelle sowie finanzielle Ressourcen.
One size fits all – das funktioniert auch in der Bildung je länger je weniger. Als möglicher Lösungsansatz für diese Herausforderungen wird das Differenzieren, Individualisieren und Personalisieren von Lernen und Kompetenzentwicklung gesehen. An vielen Stellen wird dazu entweder auf eine verstärkte Selbstorganisation gesetzt (empowerment der Lernenden) oder aber auf technologische Lösungen (z.B. LXP mit Empfehlungsmechanismen). Im Rahmen unseres achten scil Trend- & Community Days sind wir dem nachgegangen. Das Thema des Tages lautete: “Personalisierte Kompetenzentwicklung – zwischen Technologie-Unterstützung und Selbstregulation. Forschung, Entwicklung und Praxis im Gespräch”.
Ein neues Zuhause für scil
Nachdem wir vor gut zwei Jahren in ein moderneres Gebäude umgezogen sind, hat scil Anfang 2021 auch ein neues institutionelles Zuhause erhalten. Seit 01.01.2021 ist scil Teil des Instituts für Bildungsmanagement und Bildungstechnologien, das von Prof. Dr. Sabine Seufert geleitet wird:
Sabine Seufert hat dann auch zum Einstieg in den Tag die Forschungs- und Entwicklungsagenda des Instituts IBB-HSG erläutert und – ausgehend von der Unterscheidung zwischen erster und zweiter Digitalisierungswelle – die Brücke zum Thema des Tages geschlagen.
Sie zeigte anhand von aktuellen Forschungen auf, wie KI-unterstützte Bildungstechnologien personalisiertes Lernen unterstützen können:
- zum Beispiel durch KI-unterstützte Assessments, die Vergleichslösungen identifizieren und Vorschläge für die Bewertung machen;
- zum Beispiel durch KI-unterstützte Anwendungen (auf der Grundlage von argumentation mining) für individuelle Feedbacks zu schriftlichen Argumentationen – etwa im Rahmen von Kurzaufsätzen von Studierenden;
- zum Beispiel durch Chatbots, die für definierte Domänen (z.B. ausgewählte Themen der Volkswirtschaftslehre) als Lernbegleiter und Lernunterstützer für Studierende zur Verfügung stehen; an diesem konkreten Umsetzungsszenario forscht und entwickelt das Team von Sabine Seufert selbst.
Warum ist personalisierte Kompetenzentwicklung ein Thema?
Verschiedene Kontexte – ähnliche Herausforderungen
Ein Anliegen für diesen Tag war, das Thema “personalisierte Kompetenzentwicklung” für verschiedene Bildungskontexte zu beleuchten: betriebliche Weiterbildung, Berufsbildung, Hochschule und Schule. Die Herausforderungen für diese Bildungskontexte können sich unterschieden. So können zum Beispiel im Kontext der betrieblichen Weiterbildung die Herausforderungen durch rasch ändernde Job- & Kompetenzprofile im Vordergrund stehen, im Kontext von Schule und Hochschule dagegen die Herausforderungen durch heterogene Ziel- und Teilnehmendengruppen, die zu einem gemeinsamen Bildungsziel geführt werden sollen. Darüber hinaus gibt es aber auch kontextübergreifend ähnliche Herausforderungen und Rahmenbedingungen. Bei den Herausforderungen sind insbesondere die begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen zu nennen; bei den Rahmenbedingungen insbesondere gesamtgesellschaftliche Trends wie Selbstorganisation als Leitprinzip und Wertschätzung für Eigenverantwortung – auch im Hinblick auf Bildung.
Wie kann das Personalisieren von Bildung angegangen werden?
Drei Ansatzpunkte
Das Personalisieren von Aus-, Fort- und Weiterbildung kann über verschiedene Ansatzpunkte angegangen werden. So hat beispielsweise Bloom (1984) gezeigt, wie wirksam ein individuelles Tutoring im Vergleich zu klassischem Frontalunterricht ist. Aber individuelles Tutoring ist in den meisten Bildungskontexten aus Kostengründen nicht möglich. Bildungstechnologien wie beispielsweise intelligente tutorielle Systeme (ITS), Learning Experience Plattformen (LXP) oder Lernenden-Dashboards repräsentieren einen zweiten möglichen Ansatzpunkt. Dazu haben wir im Verlauf des Tages verschiedene Berichte gehört (vgl. unten). Ein dritter Ansatzpunkt für das Personalisieren von Bildung besteht darin, die Lernenden im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur Selbststeuerung bzw. Selbstregulation im Lernprozess zu stärken.
Den zuletzt genannten Aspekte (die Fähigkeit zur Selbststeuerung bzw. Selbstregulation im Lernprozess) habe ich in meiner Hinführung zu den Beiträgen unserer Gastexpert:innen kurz beleuchtet.
Selbstregulation
Mit Blick auf die Voraussetzungen für erfolgreiches selbstreguliertes Lernen sind zunächst einmal drei Aspekte zu unterscheiden:
- Kognitive Voraussetzungen
Hier spielen insbesondere das individuelle Vorwissen zum jeweiligen Thema, das Wissen zu Lernstrategien und die individuelle Kapazität für Informationsverarbeitung eine wichtige Rolle. - Metakognitive Voraussetzungen
Hier können drei Unteraspekte unterschieden werden:
1) Die Fähigkeit, eigene Lernprozesse zu planen;
2) Die Fähigkeit, eigene Lernprozesse zu steuern;
3) Die Fähigkeit, eigene Lernprozesse zu reflektieren. - Motivationale Voraussetzungen
Hierzu gehören u.a. die Selbstwirksamkeitserwartung und die Fähigkeit zur Selbstmotivation.
Für den Erfolg von selbstreguliertem Lernen ist wichtig, dass die Lernenden nicht überfordert werden bzw. sich selbst nicht überfordern. Lernerfolg stellt sich ein, wenn Lernende im Lern-/Mastery-Modus sind, nicht aber, wenn sie in einen Selbstschutz-Modus hineingeraten, wo es vor allem darum geht, als Person (Selbstwertgefühl) möglichst unbeschädigt zu bleiben (Boekaerts / Nimivitra 1999).
Schliesslich können noch unterschiedlich weit reichende Zielsetzungen für selbstreguliertes Lernen differenziert werden. Weniger anspruchsvoll und voraussetzungsvoll ist selbstreguliertes Lernen dann, wenn es um das Entwickeln von Sachwissen geht – beispielsweise, wie ein Arbeitsvorgang an einer Maschine nach dem Aufspielen eines Software-Updates angepasst umzusetzen ist. Anspruchsvoller im Sinne der oben aufgezeigten kognitiven, metakognitiven und motivationalen Voraussetzungen wird es dagegen, wenn es um das Entwickeln von Handlungskompetenzen (als Bündel von Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen – Euler / Hahn 2014) oder um das Verfolgen von längerfristigen Entwicklungszielen geht (z.B. einen Wechsel in eine andere Rolle mit anderen Aufgaben).
Mit dieser Hinführung hatte ich eine Hintergrundfolie aufgespannt, vor der wir dann die Berichte der eingeladenen Gastexpert:innen aus den verschiedenen Bildungskontexten einordnen und hinterfragen konnten.
Betriebliche Weiterbildung
Learning Experience Plattformen (LXP) bieten die Möglichkeit, Inhalte aus verschiedensten Quell-Systemen an einer Stelle – gefiltert nach persönlichen Merkmalen wie z.B. Rollen, Kompetenzen oder Interessen – zugänglich zu machen bzw. zu empfehlen. Ganz ähnlich gilt dies für grosse digitale Inhalte-Bibliotheken wie etwa linkedin learning. Beide Typen von Plattformen haben in den letzten Jahren zunehmend Verbreitung in (grossen) Unternehmen und Organisationen gefunden.
Personalisiertes Lernen mit Linkedin Learning
In ihrem Beitrag berichtete Julia Tronsberg über die Einführung von Linkedin Learning bei Infineon, die damit verbundenen Herausforderungen und wie die Nutzung der Plattform bei Infineon vorangetrieben wird.
Bei Infineon ist Linkedin Learning ein Element eines umfangreicheren Angebots von Online-Lernangeboten (dazu gehören auch Live Online Sessions, Learning Nuggets und andere). Linkedin Learning bietet eine umfangreiche Inhalte-Bibliothek mit Inhalten hoher Qualität, kuratierte Lernpfade, Übungsmaterialien und Tests bzw. Zertifikate.
Die Einführung von Linkedin Learning bei Infineon begann mit einer Pilotierung in 2018. Der globale Rollout für Mitarbeitende mit PC-Arbeitsplätzen erfolgte Mitte 2019. Aktuell läuft die Einführung von Linkedin Learning in Produktionsbereichen, die mit besonderen Herausforderungen verbunden ist.
Zentrale Herausforderungen bei der Einführung einer solchen Bibliothek bzw. Plattform bei Infineon waren Fragen der IT-Sicherheit, die Einbindung des Betriebsrats und das Erfüllen von rechtlichen Anforderungen (u.a. DSGVO).
Ein wichtiges Erfolgselement für die breite und nachhaltige Nutzung von Linkedin Learning bei Infineon ist Tronsberg zufolge die Integration der Plattform / Bibliothek in die Functional Academies (z.B. Finance Academy), in Prozesse wie Puls Checks, in das Onboarding von Nutzern auf spezifischen Plattformen und Werkzeugen (z.B. Tableau) sowie in das Performance Management.
Ausgewertet werden die Nutzungszahlen (z.B. nach Regionen, Funktionen oder Altersgruppen), die Nutzungsintensität (z.B. Lernzeiten) sowie die genutzten Inhalte (z.B. populärste Themen / Lernressourcen). Die wichtigsten Kennzahlen werden auf Dashboards zusammengeführt und zum Teil auch mit anderen Unternehmen, die Linkedin Learning einsetzen, geteilt und diskutiert.
Systematische Auswertungen dazu, ob bzw. wie die Nutzer bei Infineon ihre Lernaktivitäten zielorientiert steuern und dabei nicht nur Videos konsumieren, sondern auch Übungsmaterialien bearbeiten, liegen bislang noch nicht vor.
Lebenslanges Lernen – Technologie-unterstützt und selbstverantwortet
Startpunkte für den Beitrag von Maja Remensberger waren die Herausforderungen, mit denen Swisscom (wie andere Unternehmen auch) bei der Requalifizierung von Mitarbeitenden über die gesamte Breite der Organisation konfrontiert ist (VUCA-Welt und ‘technology skill gap’).
Die One Swisscom Academy hat den Auftrag, Swisscom und seine Mitarbeitenden zu einer kontinuierlich lernenden Organisation zu entwickeln. Das damit verbundene Motto lautet: “Gemeinsam besser werden – jeden Tag!”.
Für die Umsetzung zentral sind geeignete Lern-Infrastrukturen (Swisscom hat u.a. die LXP-Plattform Degreed eingeführt), das Befähigen der zentralen Akteure und das systematische Aufbauen von Schlüsselkompetenzen. Eine wichtige unterstütztende Rolle spielen Führungskräfte, die den Rahmen für Entwicklungsaktivitäten setzen; Skill Detectives, die den Kompetenzbedarf in den jeweilten Teams und Geschäftseinheiten klären; und Lernberater, die dabei helfen, dass die bereitgestellten Inhalte, Plattformen, Werkzeuge und Methoden in die Anwendung kommen.
Maja Remensberger wies auch darauf hin, dass die Qualität der Empfehlungs-Mechanismen, die in LXP wie Degreed eingebaut sind und die ein personalisiertes Lernen unterstützen sollen, den Ankündigungen der Anbieter und den Erwartungen der Anwender noch nicht vollumfänglich gerecht werden. Wichtige Erfolgsfaktoren im Hinblick auf selbstgesteuertes und eigenverantwortetes Lernen sind daher die Neugierde, der Durchhaltewillen, die Lernkompetenzen, die Konzentrationsfähigkeit und die Reflexionsfähigkeit der Mitarbeitenden bzw. Lernenden.
Berufsbildung
Kompetenzerwerb mit einer handlungsorientierten Lern- & Prüfungsplattform
Die gibb Berufsfachschule Bern ist mit ca. 1’000 Mitarbeitenden und ca. 8’000 Schüler:innen die grösste Berufsschule der Schweiz. Im Rahmen der Umsetzung der “Informatikausbildung 4.0” wurde ein umfangreiches Innovationsprogramm, gefördert u.a. vom Kanton Bern, umgesetzt. Dieses Programm beinhaltet u.a. die Flexibilisierung (Module), die Umsetzung von selbstorganisiertem Lernen (SOL) und die Einführung einer virtuellen, handlungsorientierten Lern- und Prüfungsplattform (Smartlearn).
Wie Martin Frieden erläuterte, entfaltet sich das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdsteuerung in der Ausbildung primär über Wahlmöglichkeiten einerseits und Vorgaben der ICT-Berufsbildung Schweiz andererseits. Die Wahlmöglichkeiten betreffen insbesondere die flexible Modulreihenfolge, verschiedene Ausprägungen von selbstorganisiertem Lernen sowie ab 2022 Online-Kurse, die auf spezifische Bedarfe von Lernenden und Ausbildungsfirmen ausgerichtet sind. Die Vorgaben betreffen insbesondere Moduldefinitionen, Leistungsbeurteilungen und Qualifikationsverfahren.
Im Hinblick auf selbstorganisiertes Lernen werden bei gibb drei Stufen unterschieden (“3-stufiges SOL-Modell”):
Auf Stufe 1 (Instruktion, Interaktion, Reflexion im Klassenzimmer) übernehmen die Lernenden primär Aufgaben im Hinblick auf die Lernerfolgskontrolle (“Lernselbstkontrolle”).
Dies gilt auch für Stufe 2, wobei hier die Lernenden zusätzlich selbständig Vertiefungen und Aufgaben bearbeiten. Der Lernort erweitert sich vom Klassenzimmer zum Campus.
Auf Stufe 3 steuern die Lernenden selbständig und eigenverantwortlich ihren Lernprozess und die Lehrpersonen geben bei Bedarf Unterstützung. Beispielsweise im Rahmen von Projektarbeiten. Der Lernort wird von den Lernenden bestimmt und kann auch den Lehrbetrieb umfassen.
Martin Frieden ermöglichte dann noch einen kurzen Blick in die digitale Lernumgebung Smartlearn und er stellte die damit erreichbare Flexibilität heraus: zeitlich – Ausbildungsinhalte zum richtigen Zeitpunkt; inhaltlich – Anpassung an die Bedürfnisse von Lernenden und Ausbildungsfirmen.
Hochschulbildung
Individualisiertes Hochschulstudium
SIDDATA ist ein interdisziplinäres Verbundprojekt, das zum Ziel hat, eine Individualisierung des Studiums auf der Grundlage von digitalen, datengestützten Assistenen zu ermöglichen. An der Entwicklung und Umsetzung beteiligt sind die Universtät Osnabrück, die Universität Hannover, die Universität Bremen sowie das HIS-Institut für Hochschulentwicklung. Das Verbundvorhaben wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.
Zu Beginn seines Beitrags stellte Dr. Tobias Thelen heraus, dass die Erwartungen von Studierenden an ein digitales Studien-Assistenzsystem (“Navi für das Studium” als systemimmanente Lösung mit Fokus auf Was? Wann? Wo? Wie?) und die Vision des Projektkonsortiums (systemüberschreitende Lösung zum Erschliessen grösserer Bildungsräume über verschiedene Hochschulen hinweg) nicht unbedingt übereinstimmen und daraus ein hoher Erklärungsbedarf resultiert. Ziel des Konsortiums ist es, das Hochschulstudium als Gelegenheit für individuelle Kompetenzentwicklung zu positionieren – u.a. indem Angebote und Veranstaltungen anderer Hochschulen sichtbar und nutzbar gemacht werden. Dies ist anspruchsvoll und erfordert auf Seiten der Studierenden insbesondere folgendes:
- Kenntnis eigener Stärken und Schwächen,
- Fähigkeit, eigene Ziele zu identifizieren und zu setzen,
- Fähigkeit, eigene Ziele erfolgreich zu verfolgen.
Eine entsprechende Unterstützungsumgebung muss demzufolge folgende Elemente beinhalten:
- Ressurcen für psychologische Selbst-Analysen,
- Unterstützung beim Aufbau von Zielsystemen,
- Empfehlungen & Erinnerungen, die zu den gesetzten Zielen passen.
Im Anschluss an eine kurze Live Demonstration stellte Dr. Thelen noch einmal zentrale Herausforderungen für die Umsetzung einer solchen Assistenzumgebung heraus. Diese stellte er insbesondere zwei Bereiche in den Vordergrund:
- Qualität der verfügbaren Daten und Hürden für eine hochschulübergreifende Nutzung von Daten
(Heterogenität von Daten; keine Passung mit traditionellen Datenschutzkonzepten); - Kulturelle Herausforderungen
(Studien- und Prüfungsordnungen schränken den Gestaltungsspielraum für individuelle Studienverläufe ein; viele Studierende sind eher an einer Optimierung im Rahmen der bestehenden Studienarchitektur interessiert; Lehrende und Serviceeinrichtungen sehen eher Gefahren (“Wer nutzt dann noch meine / unsere Angebote?”) als Potenziale (z.B. spezifisch interessierte Studierende auch von anderen Hochschulen gewinnen).
Schulbildung
Personalisierte Entwicklung basaler Studierkompetenzen
Das Lernnavi (www.lernnavi.ch) ist eine Online-Plattform für Schüler:innen an Gymnasien und Fachmittelschulen. Die Plattform unterstützt die Schüler:innen dabei, individuell, digital, zeit- und ortsunabhängig und selbständig ihre Kompetenzen in Deutsch und Mathematik zu verbessern.
Das Entwicklungsprojekt, das seit 2016 läuft und vom Bildungsdepartement des Kantons St.Gallen gesteuert wird, fügt sich ein in eine Reihe von digitalen Lernförder- und Testsystemen, die vom Bildungsdepartement bzw. dem Lehrmittelverlag des Kantons vorangetrieben wurden (u.a. Lernlupe, Lernpass, Stellwerk, etc.). Der grössere Kontext für Entwicklung des Lernnavi ist die Förderung von basalen fachlichen Studierkompetenzen in Deutsch und Mathematik und die Sicherung des prüfungsfreien Zugangs zu den Hochschulen der Schweiz.
Barbara Bitzi, die Projektleiterin für Lernnavi am Amt für Mittelschulen des Kantons St.Gallen, ermöglichte uns einen Einblick in das KI-unterstützte, intelligente Tutoring-System (ITS), das von den Schüler:innen bzw. Lehrpersonen in verschiedenen Modi genutzt werden kann (“Level Check”, “Lernen”, “Lehren”).
Das Zusammenspiel von Selbststeuerung und Fremdsteuerung bei der Nutzung der Plattform gestaltet sich dabei wir folgt:
- Die Selbststeuerung durch die Schüler:innen umfasst Entscheidungen zum Fach (aktuell Deutsch oder Mathematik), zu den Themen (z.B. Orthografie oder Funktionen) sowie zum Modus (Standortbestimmung oder Lernen / Kompetenzen erweitern).
- Sobald diese Entscheidungen getroffen sind, übernimmt das intelligente tutorielle System und weist benutzerspezifisch Aufgaben zu. Dabei verhält sich das System sowohl im Test- als auch im Lernmodus adaptiv und passt sich an die von den Schüler:innen gezeigten Leistungen / demonstrierten Kompetenzen an.
Interessant ist, dass das ITS auch offene Aufgaben bzw. Freitext-Eingaben der Schüler:innen verabeiten kann und nicht nur auf Auswahlaufgaben beschränkt ist.
Die Plattform Lernnavi.ch ist seit dem 01.08.2021 im Produktiveinsatz. Die bislang vorliegenden Rückmeldungen zeigen, dass die Schüler:innen die Lösung grösstenteils schätzen. Bei den Lehrpersonen polarisiert die Lösung: Begeisterung und die Wahrnehmung von Entlastung einerseits stehen Ängsten und Zweifeln auf der anderen Seite gegenüber. Als Projektleiterin konstatiert Barbara Bitzi unter anderem, dass der Detaillierungsgrad und die Genauigkeit der Feedbacks einerseits und der Aufgabenzuweisungen andererseits noch nicht dem angestrebten Niveau entsprechen. Hier braucht es noch mehr Trainingsdaten und weitere Arbeit an den zugrundeliegenden Algorithmen.
Fazit – Selbstregulation als vernachlässigter Erfolgsfaktor für personalisierte Kompetenzentwicklung
Individualisierung und Personalisierung von Lernen und Kompetenzentwicklung wird als möglicher Lösungsansatz für aktuelle Herausforderungen in verschiedenen Bildungskontexten gesehen – in der betrieblichen Weiterbildung, in der Berufsbildung, in der Hochschulbildung sowie mit Blick auf Schulbildung. Im Rahmen unseres Trend- & Community Days hat sich für mich gezeigt, dass es bei den grundlegenden Herausforderungen z.T. grosse Überschneidungen zwischen diesen Bildungskontexten gibt:
- Personalisierte Bildungsdienstleistungen werden kontextübergreifend als vielversprechende Antworten auf wichtige Herausforderungen gesehen – insbesondere im Hinblick auf heterogene Ziel- bzw. Teilnehmendengruppen und auf unterschiedliche bzw. rasch ändernde Kompetenzerfordernisse.
- Ein verstärkter Einsatz von personellen Ressourcen erscheint kontextübergreifend nicht als gangbarer Weg zur Realisierung von personalisierten und damit hochgradig wirksamen Bildungsangeboten.
- Auch wenn sich die eingesetzten Technologien bzw. Produkte und Lösungen unterscheiden – Herausforderungen wie z.B. das Harmonisieren unterschiedlicher Datenbestände oder das Gewährleisten von Datenschutz und Datensicherheit zeigen sich kontextübergreifend.
- Sofern KI-unterstützte Lösungen zum Einsatz kommen zeigt sich zudem eine gewisse Ernüchterung bzw. es wird deutlich, dass der Weg zu wirksamer KI-unterstützter Personalisierung weiter ist als erwartet.
Ein nachklingender Eindruck, den ich aus diesem Tag mitgenommen habe, betrifft den Aspekt der Selbstregulation von Lernen. Mir scheint, dass den Bemühungen um personalisierte und selbstverantwortete Kompetenzentwicklung noch nicht überall ein ausreichend differenziertes Konzept zur Selbstregulation von Lernen bzw. zur Lernkompetenz zugrunde gelegt wird (vgl. Abbildung 4, oben). Selbstregulation von Lernen und individuelle Lernkompetenzen sind aus meiner Sicht ein zentraler Erfolgsfaktor für (personalisierte) Kompetenzentwicklung. Ein Erfolgsfaktor, der von den Anbietern technischer Plattformen wie beispielsweise LXP oder digitaler Inhalte-Bibliotheken noch nicht systematisch berücksichtigt wird bzw. noch nicht mit der Technologie zusammengedacht wird (im Sinne einer Augmentation). Dieses Zusammendenken zu leisten ist aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe für Learning Professionals. Im Rahmen unserer laufenden Entwicklungspartnerschaft 2021 “Personalisierte Kompetenzentwicklung” arbeiten wir unter anderem auch an diesen Punkten…
Verweise
- Bloom, Benjamin S. (1984): The 2 Sigma Problem. The search for methods of group instruction as effective as one-to-one tutoring. In: Educational Researcher 13 (6), S. 4–16.
- Boekaerts, Monique; Niemivitra, Markku (1999): Self-regulated learning. Finding a balance between learning goals and ego-protective goals. In: Monique Boekaerts, Moshe Zeidner und Paul R. Pintrich (Hg.): Handbook of Self-Regulation. San Diego: Elsevier Science & Technology, S. 417–450.
- Euler, Dieter; Hahn, Angela (2014): Wirtschaftsdidaktik. 3., aktualisierte Auflage. Bern: Haupt.
- Leopold, C.; Elzen-Rump, V. den; Leutner, D. (2006): Selbstreguliertes Lernen aus Sachtexten. In: Manfred Prenzel, Lars Allolio-Näcke und Prenzel-Allolio-Näcke (Hg.): Untersuchungen zur Bildungsqualität von Schule. Abschlussbericht des DFG-Schwerpunktprogramms. Münster: Waxmann, S. 268–288.
- Metzger, Christoph (2010): Lern- und Arbeitsstrategien. Ein Fachbuch für Studierende. WLI-Hochschule. 11., überarbeitete Auflage. Aarau: Sauerländer-Cornelsen.
- Schunk, Dale H.; Usher, Ellen L. (2013): Barry J. Zimmerman’s theory of self-regulated learning. In: Anastasia Kitsantas, Barry J. Zimmerman, Dale H. Schunk, Héfer Bembenutty und Timothy J. Cleary (Hg.): Applications of self-regulated learning across diverse disciplines. A tribute to Barry J. Zimmerman. Charlotte, N.C: Information Age Pub, S. 1–28.